Österreich suchen

02.10.2009 | 17:01 |  Von William M. Johnston (Die Presse)

„Der österreichische Mensch“, „österreichische Identität“, „Gedächtnisorte“: die Suche nach dem Eigenen in drei Schritten. Eine kleine Kulturgeschichte der Eigenart.

Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hat Österreich erst sehr spät damit begonnen, seine Kultur begrifflich zu erfassen. Vor 1914 beschäftigte sich niemand mit Erörterungen zum „Österreichertum“; mit Fragen wie: Was ist ein Österreicher? In welcher Hinsicht mag er sich von einem „Reichsdeutschen“ unterscheiden, von einem Tschechen, von einem Franzosen, von einem Italiener? Die Fürsprecher anderer Kulturnationen hatten längst begonnen, die Eigenschaften und die historische Entwicklung ihres jeweiligen Nationalstils zu kodifizieren – die „Deutschösterreicher“ blieben in ganz Europa das einzige staatstragende Volk, das diese Aufgabe vor 1914 nicht in Angriff nahm.

Die Reichsdeutschen etwa hatten seitmehr als einem Jahrhundert ihre nationalen Eigenschaften, ihre Begabungen und Schwächen debattiert und historisch begründet. Die Bewegung der deutschen Romantik und die damit verbundene Volkserweckung war im Grunde nichts anderes als die groß angelegte Erforschung des Deutschtums während der tausendjährigen Entfaltung sei-
ner Kultur. Das 19.Jahrhundert hindurch hatte es sich eine Anzahl deutscher Kulturhistoriker, beginnend mit Herder und mitden Gebrüdern Schlegel, zum Lebensziel gesetzt, die deutsche Kulturgeschichte vergleichend zu betrachten. Mindestensseit 1800 gab es da keinen Mangel an Auseinandersetzungen mitGrundfragen wie: Washeißt Deutschtum? Was sind die Errungenschaften des deutschen Volkes? Wie unterscheiden sich die Deutschen von den Franzosen und von den Engländern? Goethe und Schiller, Fichte, Hegel, Ranke und Nietzsche haben das Ihrige zu dieser Diskussion beigesteuert.

Für die Deutschösterreicher existiertenichts Vergleichbares. Die in Österreich beheimatete Kultur – sowohl die sogenannte Hochkultur wie auch jene des Volkes – wurde schlicht als eine Variante der deutschen Gesamtkultur interpretiert, und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg sahen das weder die reichsdeutschen Kulturforscher noch ihre Kollegen in Österreich anders. Der Mangel an einem inneren Diskurs über die Eigenschaften der österreichischen Kultur im Rahmen einer gesamtdeutschen Kultur ist so eine der unausweichlichen Realitäten der österreichischen Geistesgeschichte seit 1700. Selbst die anderen Völker der Donaumonarchie haben früher damit angefangen, sich mit ihrer eigenen Kulturgeschichte zu befassen (angeregt wohl vor allem durch die Forcierung ihrer Nationalsprachen). Als das Staatsvolk eines Imperiums hielten die Deutschösterreicher es hingegen für überflüssig, ein eigenes nationales Bewusstsein innerhalb des Vielvölkerstaats zu entwickeln.

Die Folgen dieses fehlenden eigenständigen Diskurses über das Nationalbewusstsein erwiesen sich als fatal. Vor 1914 wurden keine Untersuchungen zu diesem Thema veröffentlicht, sondern allenfalls Witze über Wienertum und Wiener Eigenart oder Satiren über die unbeholfenen Deutschösterreicher, die nicht zu erklären wussten, welche kulturellen Eigenschaften ihre Existenz untermauerten. Man konnte Feuilletons über Wiener Sonderbarkeiten schreiben, aber eine Diagnose des spezifisch Österreichischen verstieß gewissermaßen gegen den guten Geschmack. Da kein Historiker ein Nationalbewusstsein der Deutschösterreicher behauptete beziehungsweise widerlegte, da kein Kunsthistoriker einen österreichischen nationalen Stil ausmachte, da kein Musikhistoriker eine spezifisch österreichische Art aufzeigte, verfügten die Publizisten über keine sachliche Basis, diese Fragen zu debattieren. Kein Gelehrter legte die Grundlinien einer österreichischen Sichtweise in der Kulturgeschichte dar, keiner brachte eine österreichische Auffassung der Geschichte des Donauraums vor das Publikum.

Stand sohin 1914 die Erörterung des Österreichertums gerade bei der Stunde null, so verzerrte der Zusammenbruch 1918 jede etwaige Diskussion. Die drei großen Traumata des Kriegsendes, erstens die Niederlage, zweitens der Zusammenbruch des Reiches und drittens das Verbot eines „Anschlusses“ an Deutschland, wirkten zusammen, um den Prozess des Entstehens eines Nationalbewusstseins in der Ersten Republik hinauszuzögern. „Der Staat, den keiner wollte“, war auch ein Staat, dessen Kultur keiner verstand, und es wäre eine ernüchternde Bilanz, die österreichischen Dichter & Denker der Ersten Republik aufzuzählen, die kein Wort über die Sonderart ihrer Kultur beigesteuert haben.

Die Enthaltsamkeit so vieler bedeutender Persönlichkeiten von der Suche nach einer österreichischen Eigenart macht jene Pioniere umso bemerkenswerter, die vor 1938 diesen Diskurs entwickelt haben. Die ganz berühmten Namen unter ihnen sind Hugo von Hofmannsthal („Maria Theresia“, 1917) und Robert Musil („Buridans Österreicher“, 1919), auch Franz Werfel. Auf einer etwas niedrigeren Ebene des Ruhmes stehen die Autoren Hermann Bahr, Richard Schaukal, Richard von Kralik, Felix Braun und, natürlich, Anton Wildgans („Rede über Österreich“, 1930). Neben ihnen spielen auch recht Unbekannte eine entscheidende Rolle: Robert Müller, Hans Prager („Der Österreicher“, eine erbarmungslose Entmythisierung des gesamten Themas, in dem Band „Ewiges Österreich“, 1928) und Josef Leb (mit seiner Bilanz der „österreichischen Eigenschaften“ wie „Gemütlichkeit“, „Lebensfrohheit“, „Familiensinn“, 1933). Zwei – ebenfalls vergessene – deutsche Literaten haben Interessantes beigesteuert: Ernst Lissauer und Oskar Schmitz (der als Erster das Wort „Der österreichische Mensch“ als Essaytitel setzte, 1924).

Der Begiff „Der österreichische Mensch“ erlebte indes nur eine kurze Periode der Blüte. Das Naziregime hat ihn abgewürgt, und nach einer Wiederbelebung von Wildgans' „Rede über Österreich“ in den ersten Nachkriegsjahren spielte der Begriff nur noch eine sehr marginale Rolle.


Seit etwa 1970hat sich die Konzeption einer„österreichischen Eigenart“ tiefgreifend verändert, und man könnte sogar sagen, dass diese Problematik seither einer regelrechten Revolution unterworfen war. Zu Beginn der Siebzigerjahre begann man häufig, von der „österreichischen Identität“ zu sprechen; dieses Schlagwort hat seinen Vorgänger, „Der österreichische Mensch“, aus dem Feld geschlagen. (Merkwürdigerweise haben die Essayisten vor den Siebzigerjahren das Wort „Identität“ kaum benutzt: Selbst die von Viktor Suchy inspirierte Bücherreihe „Das österreichische Wort“ beziehungsweise die „Stiasny-Bücherei“, die zwischen 1959 und 1965 ungefähr 150 Bände mit Texten repräsentativer österreichischer Schriftsteller herausbrachte, haben das Wort für die Vermarktung des „unvergänglichen Schatzes unserer Dichtung“ nicht gebraucht. Gewöhnlich sprach man damals vom „Wesen Österreichs“ statt von „österreichischer Identität“.)

Es ist wichtig zu verstehen, dass die beiden Begriffe – „österreichischer Mensch“, „österreichische Identität“ – nicht identisch sind, ja sich kaum decken. Der Begriff „österreichischer Mensch“ bezieht sich auf die Suche nach einem Charaktertypus und entspricht der Annahme, dass sich die Deutschösterreicher von den Reichsdeutschen vor allem durch ihre Charakterzüge unterschieden. Man hat sich nur nebensächlich damit befasst, den Deutschösterreichern ein Selbstbewusstsein, eine „Identität“ zu verschaffen. Es ging weniger um ein Selbstgefühl der Staatsbürger, vielmehr um die Eigenständigkeit einer kulturellen Tradition. Bis in die Nachkriegszeit hinein kreiste die Erörterung um die Merkmale der Kultur und die Charakterzüge des Menschentypus, der sie angeblich geschaffen hatte.

Nach 1970 ging die Debatte um die Beziehungen zwischen den Staatsbürgern und ihren gesamten Traditionen (politischen wie wirtschaftlichen, ideologischen wie kulturellen). Die Intellektuellen und die Medien gingen auf die Suche nach Wurzeln und Triebfedern der Zweiten Republik, um die Zielsetzungen desStaates zu erforschenund das Nationalbewusstsein seiner Bürger zu wecken. Man wolltesämtliche Hindernisseauf dem Weg zu einerSelbstidentifikation derStaatsbürger mit allenAspekten der österreichischen Tradition beseitigen. – Im Vergleichzur medialen Übersättigung der Identitätsdebatte der Siebzigerjahre war die Diskussion um den „österreichischen Menschen“ zwischen Erstem Weltkrieg und den Sechzigerjahren elitär gewesen, begrenzt und sprunghaft. Nur Intellektuelle und Publizisten nahmen daran teil, nicht das breitere Publikum oder der Großteil der Politiker, und die Debatte drehte sich um die Kultur schlechthin, nicht um die Beziehungen zwischen der Kultur und dem politischen Leben.

Ja, die Unterschiede zwischen dem vor den Siebzigerjahren entstandenen Diskurs zum Österreichertum und der anschließend laufenden Identitätsdebatte sind in der Tat bemerkenswert. Ein Hauptunterschied – um noch diesen zu nennen – betrifft die Wechselwirkung zwischen Kultur und Politik. Die Zweite Republik nahm es als selbstverständlich an, dass der Staat eine Kulturpolitik führen müsse, die zum Beispiel kulturelle Veranstaltungen und Initiativen finanziert und das Profil der österreichischen Kultur im Ausland erhöht. Nach unserem heutigen Verständnis ist es die Aufgabe des Staates, die Kultur auf allen Ebenen zu fördern, die Hochkultur ebenso wie die Volkskultur und die Massenkultur.

In seinem Essay „Politik in Österreich“ beklagte Robert Musil gerade diesen Mangel an Beziehungen zwischen dem Politischen und dem Kulturellen. Im Habsburgerreich entstand jede Idee, jedes Kunstwerk, jedes Stück Kultur von der Politik abgetrennt. Nach Musil handelten die Politiker wie Helden eines „serbischen Heldenepos“, das heißt wie Einzelkämpfer, weil das politische Leben keinen Bezug zum Alltag, zur Kultur der Bevölkerung aufwies. Die Politiker dachten nicht kulturell, und die Kulturschaffenden dachten nicht politisch. Ein Hauptthema von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist die Unmöglichkeit, die Leistungen der Hochkultur in das politische Leben des Habsburgerreichs einzubringen. Die Beamten verstanden nicht, wieso sie eine schöpferische Kultur amtlich fördern sollten. Daher musste der „Möglichkeitsmensch“ Ulrich seine Zuflucht aus dem öffentlichen Leben in der Liebe zu seiner Schwester nehmen, denn nur das ausgesprochen Private konnte das Schöpferische beflügeln.


Am Anfang des 21.Jahrhunderts ist mannun nicht bei den Identitätsdebatten derSiebzigerjahre stehen geblieben. In den Neunzigerjahren rückte ein neuer Begriff in den Fokus der Geschichtspolitik, und zwar der Begriff „Gedächtnisort“ („lieu de mémoire“, „site of memory“). Ursprünglich wurde der Begriff auf spezifische Orte wie die Geburtshäuser berühmter Menschen bezogen, aber bald wurde er im etymologischen Sinn von Topos interpretiert, das heißt: als historischer „Gemeinplatz“. Heute bedeutet „Gedächtnisort“ jede Erscheinung – ob Name, Ort, Buch, Begriff oder Slogan –, welche die Aufmerksamkeit eines Publikums auf einen Aspekt der Vergangenheit lenkt. Kurzum: Ein Gedächtnisort ist ein Gedächtnisthema, und in diesem Sinn wäre das Schlagwort „Der österreichische Mensch“ jedenfalls ein Gedächtnisort. Weitere Gedächtnisorte sind berühmte Texte wie Wildgans' „Rede über Österreich“, geflügelte Worte wie Musils Prägung „Kakanien“ und große Lebensthemen wie Friedrich Heers „Kampf um die österreichische Identität“.

Heutzutage wissen alle Kulturinteressierten, wie sehr die Pflege von Gedächtnisorten in den vergangenen zwei Jahrzehnten, übrigens in ganz Europa, in Mode gekommen ist. Vor fünf Jahren erschien das dreibändige Sammelwerk „Memoria Austriae“ (Oldenbourg Verlag), das 30 Aufsätze – überraschenderweise erhielt das Schlagwort „Der österreichische Mensch“ kein Kapitel – zu verschiedensten Aspekten der österreichischen Gedächtnisthemen enthält. Diese Aufsätze behandeln nicht nur große historische Gestalten wie Mozart, Maria Theresia und Kardinal König, sondern Themen wie „Sporthelden“, „Gemütlichkeit“ und „Kraftwerke“. Die Autoren durchleuchten den Stephansdom und die Donauund Salzburg-Mythenals Brennpunkte des kollektiven Gedächtnisses, das Wiener Riesenrad und Mariazell und die allgemeine „landschaftliche Schönheit“. – Nichtvon ungefähr gibt es im heutigen Österreich denn auch eine Debatte über die Vermarktung der Gedächtnisorte. Der Historiker Moritz Csáky spricht sogar von „der Verortung von Gedächtnis“ und tadelt die Monopolisierung der historischen Reflexion durch eine Aufgeladenheit mit Gedächtnistopoi. Die Sucht nach Gedächtnisorten verzerre die erzählende Funktion der Geschichtsforschung und privilegiere jenes bereits Bekannte, das mit einem erkennbaren Gedächtnisort konnotiert werde. Gedächtnisorte machen das bereits Gekannte noch mehr bekannt, aber per definitionem kann das noch nicht Erforschte nicht als ein Gedächtnisort gelten.


Alles in allem bieten uns seit 1970 die Entwicklungen in der Auffassung des Österreichertums Gründe zum Optimismus. Das Studium der Kulturgeschichte, der vergleichenden Ethnografie, der Politologie hat in Österreichs Zweiter Republik unerhörte Fortschritte gemacht. Von unserer postmodernen Fülle an Wissen von Daten und Begriffen können wir zufrieden auf den Diskurs zum Österreichertum zurückblicken.

Die Anstrengungen der Essayisten in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, die Einmaligkeit Österreichs zu entwerfen, sindzweifellos beeindruckend: Sie können unsere Terminologie mit Ausdrücken wie„Reichsmensch“, „Dienstaristokrat“ und„Feuilletonismus“ beziehungsweise „Vagantentum“, „Heimatlosigkeit“ und „seelischer Relativismus“ bereichern, sie können unsere Standpunkte durch ihren Weitblick und ihre Erfindungsgabe erweitern, und sie können uns durch ihre poetischen Visionen erbauen. Aber sie können uns nicht davon überzeugen, dass sie das Habsburgerreich beziehungsweise die Erste Republik tiefer verstanden haben, als wir es tun. Wir können von ihrem Einfallsreichtum lernen und von ihrem Engagement für Österreich, aber nicht unbedingt von ihrer Deutschland-Obsession und auch nicht von ihrer Trauer um Kakanien. Ihre Essays führen uns vor Augen, wie sehr sich die Zweite Republik heute vom Habsburgerreich und der Ersten Republik entfernt hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2009)

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Österreichisch auf Papier, Türkisch im Herzen?

by Dudu Gencel

Viele Türken in Österreich haben neben der österreichischen auch die türkische Staatsbürgerschaft. Das hat pragmatische Gründe. Der Vorwurf, die betroffenen Doppelbürger würden damit dem österreichischen Staat schaden ist lächerlich und auch längst nicht mehr zeitgemäß. Ein Kommentar von Dudu Gencel.

Doppelstaatsbürgerschaften sind bis auf wenige Ausnahmen in Österreich verboten. Wie es trotzdem geht, dass zehntausende eingebürgerte Neo-Österreicher zusätzlich auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen? Die Presse deckt nun auf und berichtet wie man sowohl türkisch als auch österreichisch zugleich sein kann. Das österreichische Außenministerium drückt ein Auge zu. Denjenigen, die trotzdem auffliegen, wird aber auch zugleich die neugewonnene österreichische Identität aberkannt!  Viele riskieren es anscheinend dennoch, werden auch noch vom Konsulat dazu ermuntert, so der Bericht. Ist mit dieser Praxis nun untermauert, was bei jeder Integrationsdebatte immer aufkommt: Bekennen wir Türken uns nicht stark genug zu Österreich? In einem Hin und Her zwischen den Ländern und zwischen ihren Staatsbürgerschaften, versuchen sich die Türken also auf illegalen Wegen an beiden Ländern zu bereichern, so lese ich zwischen den Zeilen. Dass man dabei die Identitätsfrage an der Staatsbürgerschaft festmacht, erleichtert mich. Somit kann ich mir meine innere Zerrissenheit sparen. Resultat: Türkisch durch und durch – zumindest auf Papier.

Dann gibt es aber auch die ältere Generation. Auf Papier österreichisch - im Herzen türkisch. Gerade diese ist sehr stolz auf ihre österreichische Staatsbürgerschaft, möchte aber genauso wenig auf ihre hart erarbeitete Existenz in der Türkei verzichten. Für sie ist die österreichische Staatsbürgerschaft auch eine Geste der Akzeptanz! Die jüngere Generation hingehen, beschäftigt sich eher weniger bis gar nicht mit diesen Fragen. Für sie ist ihr österreichischer Pass eine Selbstverständlichkeit und steht auch in keinerlei Konflikt mit ihrer emotionalen Verbundenheit zur Türkei.  Sie arbeiten hier, urlauben aber lieber in Bodrum. Sie sprechen Deutsch, fernsehen lieber auf Türkisch. Deutsch sprechen,  Türkisch fühlen – das wird gelebt! Dieses Zwischen-den-Stühlen-Sitzen – ist ein Gefühlszustand, der sich durch das ganze Leben zieht. Kann auch nicht mit dem Pass abgegeben werden.  Die Forderung diese „gespaltene“ Existenz auch auf legaler Ebene zu ermöglichen, ist doch vor allem in Zeiten globaler Mobilität, mehr als gerechtfertigt. Wenn die FPÖ für die SüdtirolerInnen eine Doppelte Staatsbürgerschaft fordert, um „die Verbundenheit mit dem Heimatland Österreich, besser zum Ausdruck bringen zu können.“, stellt sich wohl keinem Österreich die Frage nach der Integrationsbereitschaft. Die Verbundenheit zum Heimatland Österreich soll erhalten bleiben. Alle anderen sollen aber gefälligst ihrer alten Heimat vollständig den Rücken kehren. Sonst läuft man Gefahr die Integration zu unterbinden.

Dass das Wohlfühlen in einer Gesellschaft in keinerlei Konflikt mit der Verbundenheit zu einem anderen Teil dieser Welt steht, will man nicht glauben. Es ist schwer zu verstehen, dass man weder seine persönliche Vergangenheit, noch den prägenden Einfluss der Familie nicht einfach so löschen kann. Gastarbeiter und ihre Nachfahren existieren nun mal zwischen den Grenzen und nicht innerhalb. Wenn es die Möglichkeit gibt, diese zwei Existenzen mit möglichst wenig bürokratischem Aufwand aufrecht zu erhalten, nimmt man diese auch in Anspruch – ohne sich mit essentiellen Identitätsfragen zu beschäftigen – ist für viele eher eine Frage der Pragmatik. Wenn dies mit „illegalen Tricks“ geschieht, sollte man sich eher die Frage stellen, wieso es dieser bedarf. Ich kenne tatsächlich keinen einzigen Auslandstürken, der sich nur aufgrund seiner Staatsbürgerschaft türkischer oder österreichischer fühlt. Ich kenne niemanden der seine Zugehörigkeit nach der Verleihung anders definiert hätte. Entweder man war schon immer „ÖsterreicherIn“ oder man ist es „noch“ immer nicht! Oder aber man ist halt ein/e Zwischen-den-Stühlen-SitzerIn, so wie ich eine bin. Wir scheitern gewiss nicht am „Doppelpass“, sondern viel eher an der Doppelmoral, mit der in Österreich diese Art der Debatten immerzu geführt werden!

http://www.dasbiber.at/content/%C3%B6sterreichisch-auf-papier-t%C3%BCrkisch-im-herzen

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Florian Oberhuber

Österreichische Identität

Es herrscht hier zu Lande - man weiß es - ein prekäres Verhältnis zum Nationalen. Was ist/isst Österreich? Sonntags Wiener Schnitzel! - Da die Bedürfnisse des Darmes auch in jener Hinsicht tiefer sitzen, als der Hunger immer zuerst kommt, wollen wir einmal an dieser prosaischen Stelle weiterdenken.

 

Schnitzel - semantisch
Essen lesen: Was den Engländern ihr beef und den Amerikanern der burger, ist den Österreichern das Wiener Schnitzel. Als Symbol nationaler Blutsbrüderschaft kommt nur ein Stück Fleisch in Frage; der gleichen Blutmythologie angehörend wie der Wein, dient es gleichsam als säkularisierte Hostie - nicht mehr Leib Christi, sondern Leib der Nation. An dieser geheiligten Stelle steht in Österreich (zumindest von Rechts wegen) ein Stück vom Kalb, und zwar vom Schlegel. Ein vornehmes, zartes, helles, junges Fleisch also: In der christlichen Ikonographie repräsentiert es die Opfergabe ohne Makel und kann sogar für den Erlöser stehen. Doch dies ist noch nicht genug der Reinheit: So wie der Sünder seinen Körper geißelt, auf dass ihm die Flausen ausgetrieben werden, muss auch das Schnitzel geklopft werden. - Das Fleischliche als Symbol des Nationalen ist im Wiener Schnitzel in höchstem Maße verneint, ja, seine bloße Existenz muss unter einer Panier verborgen werden. Sie bietet sich bestens als zweites Moment einer strukturalen Lektüre an. Und man muss nicht Hegelianer sein, um diese durch Mehl gehärtete goldene Hülle (die/das Goldpanier) mit dem Staat als Allgemeinem zu identifizieren. So wird unversehens aus einem Nationalgericht eine Apotheose des Staates.

Schnitzel - monarchistisch
Das Wiener Schnitzel in dieser prekären, vielleicht schizoiden Struktur ist ein Erbe aus der Monarchie. Freilich nicht als Nationalgericht - denn ein solches war geradezu eine Unmöglichkeit im Vielvölkerstaat. Dieser war nur unter der Bedingung zu erhalten, dass die Deutschösterreicher darauf verzichteten, den Weg der nationalen Radikalisierung zu gehen. Die deutschnationalen Töne des “Jungen Österreich” waren der eigentliche Feind im Vormärz, später folgten die Sympathisanten der Frankfurter Paulskirche von 1848. Die Nationalbewegungen in den Provinzen konnte man hinnehmen; eine nationale Bewegung der Deutschen als der staatstragenden Nation aber hätte den Kaiserstaat zerbrochen, zumindest in einen deutschen und einen nicht-deutschen Teil. Das bedeutete für einen österreichischen Gesamtstaatspatriotismus, dass er sich statt an die Nationalität an eine andere, möglich abstrakte Idee anhängen musste. “Dieses Länderkomplexes Beruf ist es, der Welt ein Beispiel zu geben, dass Humanität höher stehe als Nationalität,” formulierte es Josef Chmel 1857. Diese Idee drängte zu einem Welt-Österreichertum, das seine Einheit schließlich nur noch in dem “88-jährigen Friedenskaiser” fand. Der “Gründungsmythos” des Wiener Schnitzels phantasiert solches Österreichtum als großes Erfolgsrezept: Radetzky hätte das Schnitzel 1848 aus Mailand mitgebracht, worauf die Wiener Köchinnen einige Verfeinerungen angebracht hätten: Statt Kotelett nahmen sie Fleisch vom Schlegel, statt es zu drücken wurde das Schnitzel jetzt geklopft und die Panier wurde durch Mehl und Anpressen härter gemacht. Oder allgemeiner: Man nehme das Beste der Nationalitäten, füge die “überlegene deutsche Kultur” bei und hoffe auf eine gelingende Bindung zur Gesamtstaatsfähigkeit.

Schnitzel - demokratisch
Indem die Erste Republik das Wiener Schnitzel als Erbstück der Monarchie übernahm, schrieb sie zugleich die seltsame Struktur dieses Rezeptes fort. In seinem Geiste baute Hans Kelsen die österreichische Verfassung. Er war in mehr als einem metaphorischen Sinne deren Architekt: Kelsen dachte das Recht so, wie ein Architekt sein Fach denkt, wenn er ein Modell für einen Wettbewerb konstruiert. Das Thema dieses Wettbewerbs hieß “Republik Deutschösterreich” - von der Monarchie aus gesehen ein unglaubliches Experiment, dem Kelsen das Musterbeispiel einer demokratischen Verfassung gab.

 

Das Recht geht vom Volk aus, heißt es dort. Jene Kategorie, die im komplexen Gebilde des Vielvölkerstaates die unter vielen Decken verpackte Erbse war, konnte auch im Kelsenschen Gebäude nicht ruhig gestellt werden. In der Zwischenkriegszeit brach das Nationale in aller Heftigkeit aus. Auch der Aufstieg des Wiener Schnitzels zum Nationalgericht dürfte in die diese Zeit fallen. Indem das Kalb durch das billigere Schwein ersetzt wurde, erlangte das Gericht Massentauglichkeit. Diese Demokratisierung des Nationalen führte jedoch in die Katastrophe, als die Imago des Völkischen sich seiner bemächtigte: Mit Austrofaschismus und Drittem Reich ging die Unschuld des Nationalen, wie sie das Kalb im Wiener Schnitzel symbolisierte, endgültig verloren. Seit diesem Sündenfall besetzt das Schwein die Position des Nationalen: Es steht für Maßlosigkeit, Leidenschaft, Banalität - im Christentum auch für das Böse schlechthin.

 

Dass das nicht so sein soll, war nach dem Krieg klar - das “echte” Wiener habe selbstverständlich vom Kalb zu sein. Mit diesem Verdrängungs-Konsens nahm die Erfolgsstory der Zweiten Republik ihren Ausgang. In großkoalitionärer und konkordanzdemokratischer Eintracht wurde das Volk wiederum sorgsam verborgen. Weder gab es im Nachkriegsösterreich Nazis noch ein Volk, mit dem im demokratischen Willensbildungsprozess zu rechnen wäre. Noch in den 90ern war die Bezeichnung des demokratischen Souveräns nur in ironisierter und verneinter Form möglich - legendär ist das Männchen mit Steirerhut, dämlich aber harmlos, überhaupt solange ihm von der Regierung die EU- und sonstigen Ängste ausgetrieben wurden. Wen wundert’s, dass die Gegenposition einer Bejahung des Volkes nur als “einfach ehrliche” Schweinerei möglich war?

Schnitzel - großkoalitionär
Die Große Koalition war zuletzt eine Panier, die Risse bekommen hatte. Dennoch: Sie hielt noch immer die Position des Guten besetzt, ja sie wurde mit der Idee der Zweiten Republik ident gesetzt. Derart geheiligt konnte die Herausforderung nur das Böse sein, das wir in der Semantik des Wiener Schnitzels im Schwein gefunden haben. - Haider tauchte auf: Von Anfang an wurde um ihn eine große Dämonologie betrieben, deren Logik hieß: Können wir nichts Böses sehen, so zeigt das nur, wie perfide er ist. Doch die Exorzisten selbst sind im Bund mit dem Teufel: Wer Haider am lautesten verdammt, hechelt am meisten nach neuen “Sagern”. Wer also ist Haider? Wahrscheinlich ist er genauso schizoid wie dieser dämonologische Diskurs. Doch zurück zur österreichischen Identität: Blauschwarz entwurzelt die verfestigten Positionen und alle Fragen stellen sich neu.

 

Das politische Imaginäre restrukturiert sich und wieder scheint es auf einen Dualismus von Gut und Böse hinauszulaufen. “Wer ist der wahre Patriot?”, so lautet die Frage. Einfache Antworten darauf sind in Österreich nicht möglich. Wer die Debatte um die EU-Sanktionen verfolgt hat, stellt fest, dass der Diskurs ständig an Komplexität und Abstraktion zunimmt, sich dabei aber haltlos um sich selber dreht. - Auch dieser Artikel entkommt dem Sog dieser Spirale nicht. Spannend ist die Position, die die Künstler in der Frage der Identität bezogen haben: “Wir sind ein Naziland,” ließ Ironimus sie als irrwitzige Clowns auf eine Tafel in Form von Österreich schmieren. Schnitzologisch betrachtet ist ihr Diskurs die Demaskierung von Schuld und Sündhaftigkeit des Fleisches bzw. die Dekonstruktion nationaler Identität.

 

Das funktionierte problemlos, solange die Regierung selbst das Nationale verneinte: Der Spießer fühlte sich (auch) auf sein Schnitzel getreten, der Staat subventionierte. Mit Blauschwarz jedoch musste sich konsequenterweise die Frage der Emigration stellen, denn diese Regierung war ein Pakt mit dem Teufel. - Oder aber man hoffte unter der Parole Widerstand auf ein “anderes Österreich”. Dieser Traum, das Schwein wieder durch ein Kalb ersetzen zu können, kennen wir bereits vom Gesamtstaatspatriotismus der Monarchie, wobei diesmal Toleranz und Menschenrechte als Surrogat des Nationalen dienen sollen.

Schnitzel - identitätstechnisch
Die Situation scheint verfahren: Eine Identitätskonstruktion jenseits des Nationalen hat es angesichts des historischen Ballasts im Symbolischen und des gegenwärtigen “durchgedrehten” Diskurses schwer, eine stabile Position zu beziehen. Ein einfacher Patriotismus nach “amerikanischem” Vorbild wiederum, würde nur zu leicht in den Sog der kollektiven Empörung geraten, die ihre identitätsstiftende Kraft aus dem gemeinsamen Feind EU bezieht. Ohnehin droht die Frage vollständig in der virtuellen Realität der Medien aufzugehen, wo sich alles in der Austauschbarkeit der Zeichen verliert. Manche Stimmen sprechen sich daher für eine vollständige Verabschiedung von identitären Diskursen aus. Solch totalisierte Dekonstruktion scheint allerdings nicht ohne Gefahr, befinden sich Macht und Widerstand doch im selben Dispositiv. Die völlige Verneinung identitärer Konstruktionen hat in der Sehnsucht nach dem Ganzen ihren kongenialen Widerpart. Mein Vorschlag: Treffen wir uns, meinetwegen beim Schnitzelwirt!

 

http://www.sinn-haft.at/nr7_dinner_for_cyborgs/oberhuber_nr7.html

 

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